Христоф Август ТиджURANIA. 4. GESANG. UNSTERBLICHKEIT
Es sei gegrüßt, das Inselland der Stille...
Es sei gegrüßt, das Inselland der Stille,
Die Einsamkeit, wo sich der Sturm des Lebens bricht;
Wo die Betrachtung wohnt, und aus der tiefen Fülle
Der Seel' ein Wiederhall aus fernen Welten spricht!
Fleug hin mit deinem Geist zu jenem Wunderthale,
Dem Thal, um welches kühn empor die Tempelhöhn,
Die Felsen, wie Erinnrungsmale
Von grauen Ewigkeiten, stehn!
Laß noch einmal den Tag vorüberziehen,
Der, wie ein schöner Wandel, unterging,
Und mit dem Nachklang seiner Harmonien
Schon zwischen zweien Welten hing,
Als uns dies Gotteshaus umfing,
Dies Felsenthal, voll großer Phantasien!
Wir schauten nach der Rosenwand,
Wohinter mit den letzten Spuren
Das schöne Tageslicht so still hinunter schwand,
Als sich der Mond dem Ostgewölk entwand,
Und über den verlaßnen Fluren,
Wie eine aufgeblühte Hoffnung, stand,
Wie ein geweihtes Unterpfand
Der unversiegten Lebensquelle.
Gleich einem dunkeln Leben, wand
Der Strom des Waldes sich durch seine Wasserfälle
Hinab, wohin die Zeit ihn reißt.
Da schlug, wie eine leise Welle,
Der Sinn des Lebens auf in unserm Geist.
Es war so still um ihn, wie nach verstummten Flöten,
So still, als ob durch die verhüllte Flur
Des Friedens Atemzüge wehten.
Nichts war um uns, als Gott und die Natur.
Da schauderte durchs Herz die Kraft, sich aufzuringen,
Sich los zu retten von den Dingen;
Und freier sah der Geist ins Ewige hinaus;
Und Leben, Lebenswonn' und Licht und Wahrheit gingen
Vom hohen Unsichtbaren aus.
Doch fragt der Zweifel: Warf die Gottheit mit Verachtung
So viel erhabnen Lebenssinn
Und so viel Gottheit zur Verschmachtung
Ans große Weltenufer hin?
Tilgt er ihn zürnend weg vor seinem Angesichte,
Den Menschengeist, den er so tief,
Und inniger hervor aus seinem Gotteslichte,
Als alle seine Sonnen, rief?
Sieh dort! ein liebliches Geflimmer
Erwacht im Schoß der Dunkelheit.
Schon tritt ein roter Morgenschimmer
In meine düstre Einsamkeit.
Du, Herold Gottes! hast du nichts mir zu verkünden? –
Du sprichst: "Mich hat die Huld gesandt." –
Willkommen, Lichtaufgang! Die letzten Schatten schwinden,
Aus denen heitres Leben auferstand.
Ein lichtes, himmelblaues Leben,
Woran die Freude, wie ein Rosenwölkchen, hängt,
Wird den erwachten Tag umschweben,
Der liebend seine Welt umfängt.
Wie Blicke, die in heller Wonne schwimmen,
Glänzt der betaute Halmenhain;
Und Liebe ruft, mit tausend Stimmen,
In ihre Morgenwelt hinein.
Ein jeder Hauch, der über Blumenflächen
Der Aue wandelt, spricht: "O Mensch, die Gottheit liebt!"
Kann rührender die Liebe sprechen,
Als durch den Himmel, den sie giebt?
Vernimm den Sinn, den Geist der süßen Lebenstriebe,
Der tausendstimmig zu dir spricht:
"Vernichten kann der Gott der Liebe,
Vernichten kann der Gott des Lebens nicht."
Zu einem ernsten Freudentempel weihten
Verborgne Hände diese Welt,
Durch welche lächelnd bald, wie holde Seligkeiten,
Bald warnend, wie der Schmerz, uns Engel hin begleiten,
Von einer höhern Huld uns freundlich zugesellt.
Die Huld hat an die Rasensitze
Der Freude hingestellt den Schmerz,
daß, gegen unser eignes Herz,
Er unsre Lebensfreundin schütze.
Verdamme nicht den weisen Schmerz!
Es war in einem Nachtviolen-Grunde,
Da heiligte der Schmerz mit einem ernsten Blick
Und hohem Ahnungssinn ihr stilles Seelenglück:
Vergessen wird sie nicht der weihevollen Stunde;
Die Thräne ließ er ja zum Denkmal ihr zurück.
Die Liebe hat die Welt geboren;
Die Freude nahm sie schmeichelnd auf den Schoß;
Und beide haben einen Bund beschworen,
Es zu beseligen, das reiche Menschenlos,
Dies liebste Pflegekind der Horen.
Halb fliehend, und nur darum schön,
Wirft uns die Freud' auf allen Wegen
Die Blumen ihrer Kron' entgegen.
In Thälern feiert sie und auf geschmückten Höhn
Den süßen Augenblick; sie hebt zur Lust die Schwinge
Dem Adler, wie dem Schmetterlinge;
Sie füllt die Lerchenbrust mit lyrischem Getön,
Daß sie die Zeit des Heils den Wolkenhallen singe.
Es schwebt ihr Geist im leisen Wehn
Der Waldluft hin, und schlägt um jeden Zweig die Flügel.
Wenn Taumelwellen auf des Baches Spiegel,
Gleich kindlichen Umarmungen, sich drehn,
Dann schüttelt sie vom nächsten Hügel
Die bräutliche Bekränzung drauf.
Sie führt den Tanz des jungen Leben auf;
Sie färbt die Blüte rot, wie eine Mädchenwange;
Sie zieht als Dryas1 ein, wo du die Laube wölbst;
Sie folgt als Grazie von fern dem Tugendgange:
Denn wert des Himmels sein, ist halb der Himmel selbst.
Und daß schon hier im Reich der Sinne
Die junge Paradieseswelt beginne,
Ward unserm Geist ein Wesen zugesellt,
Aus Geist und Sinnlichkeit geboren:
Die Phantasie ward auserkoren,
Zu öffnen uns die reiche Wunderwelt.
Sie zaubert die Vernunft herab von ihren Höhen,
Auf denen hell, doch kalt, das Licht der Sonne strahlt,
Und lockt in Thäler sie, wo Nebeldüfte wehen,
Auf die so blühend sich der Regenbogen malt.
Und über öde, tote Räume
Weiß sie Lebendigkeit und Glanz und Licht zu streun;
Der Freud' erzählt sie rosenfarbne Träume;
Sie singt den Gram mit Himmelsliedern ein.
Sie hat den mächtigen Gesang erzogen,
Der das Gemüt der Erd' entreißt;
Sie schwebet auf der Flut, auf den belebten Wogen
Der Töne hin, wie Gottes Geist.
Bald seufzen ihre Töne leise Klagen
Der Sehnsucht aus, die schöne Seelen drängt;
Bald flattern sie dahin, gleich frohen Kindertagen,
Um die ein bunter Frühling hängt.
Was sprach so süß, wie ein Gesang der Musen,
Die Harmonien deines Herzens nach?
Sie rief den Echolaut, zur Stimm' in deinem Busen,
In einer zarten Seele wach.
Sie haucht der Liebe diese Zauberworte,
Sie haucht ihr ein die Seelenmelodien;
Sie schmückt das Leben ihr, wie eine Siegerpforte,
Durch die bekränzte Horen ziehn.
Der Hoffnung giebt sie morgenrotes Leben,
Und der Erinnerung ein Abendrot voll Ruh;
So treten beide hin zur Gegenwart, und weben
Dies Zwischenland mit Blumendecken zu.
Sie faßt die Gegenwart in ihren Zauberspiegel,
Und strahlt verschönert sie zurück;
Sie schwingt sich auf von diesem Hügel,
Und Himmel öffnen sich vor ihrem Seherblick;
Sie schaut hinaus, und sieht ein großes Lebenswandern;
Da zieht es hin durch die erhabne Ruh,
Und eine Sonne blitzt der andern
Den Gruß der Lieb' und Lebensfreude zu.
Wie Funken, die auf Ätherfluten glimmen,
Von einer höchsten Sonn' herab
Auf diese Flut geworfen, schwimmen
Die goldnen Inseln auf und ab.
Von der Begeisterung getragen und erhoben,
Begeht ihr Götterfest die Phantasie dort oben,
Und weihte sie nicht im Prophetentraum
Zur Tempelheiligkeit den Raum
In jenem Abendthal, das deine Trauer feiert?
Wo durch die grüne Nacht, die festlich niederhing,
Wie mit Verklärungsglanz umschleiert,
Die himmlische Gestalt der reinsten Seele ging!
Geheim umflüsterte das Laub die Tannenreiser,
Wie Liebeslispel einer jungen Braut;
Und die Natur sprach leis' und immer leiser;
Die Gegenwart verschwand, wie ein verklungner Laut.
Um Hehra war's so heilig, wie am Sitze
Der Unschuld, die ein Gott bewacht.
Ein schönes Leuchten, wie verschwiegne Blitze,
Vergoß die heitre Sommernacht.
"So wie dies Leuchten" – sprach die Fromme – "glänzt am Staube
Der dunkeln Erde still der Gang der Tugend auf."
Und ihr Gefühl war Heiligung und Glaube,
Die das begeisterte Gemüt hinauf
Zur Heimatflur geweihter Seelen trugen.
Es feierte der ganze Hain,
Und alle Nachtigallen schlugen
In Hehras Seelenfest hinein.
Sie blickt' empor, und sah den Schein
Der Abendfackel durch das Grauen
Der Dämmerung am Saum der Nacht herüber schauen.
Da rief sie: "Schön ist doch das dunkle Menschenlos!
Die Erde nimmt uns sanft auf ihren Blumenschoß,
Und zeigt von fern uns neue Erden,
Für die sie uns erzieht; und schauerlich und groß
Liegt vor uns da das ernste Sein und Werden.
Wie eine Zukunft, schaut die Abendwelt,
Sie schaut uns an aus ihren tiefen Hallen,
Voll Sterne, die das weite Schlummerzelt
Des eingeschlafnen Tags, wie goldne Träum', umwallen.
Der Altar2 glänzt daher, und wonnefestlich schlägt
Empor von ihm die Glut, wie Opferflammen-Lohe,
Da feiert seliger der Glaube, der die hohe
Verheißung Gottes durch die Himmel trägt.
Nun sieht das Zweigestirn, wie still und mild zusammen
Dort auf und ab die beiden Sterne gehn,
Und ewig sich einander hold umflammen!
O, laß uns dort Bedeutung sehn!
Es geht der große Geist der Liebe
Durch seine Schöpfung, die er trägt und hält;
Er schlingt das süße Band der holden Wechseltriebe
Hier um ein Herz, und dort um eine Welt.
Und o, wie feierlich ist jener Raum erhellt,
Wo immer meine schönsten Lichter brannten!
Die Kron'3 am Himmel zieht die Seele himmelwärts,
Und strahlt mit ihren Sternendiamanten
Der Hoffnung Freudigkeit ins Herz."
Und immer heller wird's in Hehras innerm Leben:
"Dort" – rief sie aus – "wo freudig ab und auf
Im dunkeln Raum die Strahlenwelten schweben,
Löst glorreich sich in Licht und Leben
Das schauerlichste Dunkel auf.
Die Gräber dort sind lichtbekränzte Thore,
Durch die der Genius, der uns hier kalt berührt,
Der Genius der letzten Hore
Die Pilgerscharen Gottes führt,
Wenn sie, von einer Welt zur andern,
Die große Gottesstadt durchwandern.
Wie selig dämmert zu dem Glauben es herab,
Das stille Land der Hoffnung und der Liebe,
Zieht uns empor vom eitlen Weltgetriebe,
Und spiegelt sich im reinsten Leben ab!
Wohl ist die Bürgschaft für den Himmel
Der Himmel hier in unsrer Brust." –
So Hehra. – Tief versank das rauschende Getümmel;
In Nacht versank vor ihr der Traum von Schmerz und Lust.
Der Mensch hört auf zu sein; und schon beginnt der Engel,
Wenn er in sich den Himmel nicht vermißt,
Wenn, trotz dem Schmerzgefühl der Mängel,
Der Gott in ihm auch mit ihm ist.
Du sahst die Zukunft sich in Hehras Leben spiegeln,
Da fiel in deine Seel' ein wunderbares Licht;
Da legte mit der Liebe Flügeln
Sich um dein Herz die schöne Zuversicht.
Der Glaub' umfaßte nun mit einem Friedensbunde
Dies Erdenthal und jenes hohe Sein. –
Begegnen wird dir einst mit dieser reichen Stunde
Die Ewigkeit noch dort am finstern Totenhain.
Sei Friede dann mit diesem Schattenleben!
Dem Himmel ist es ja so nah verwandt;
Und Lieb' und Freundschaft weihn darin ein stilles Land,
Das sie, wie Genien, umschweben,
Aus einer schönern Welt zu uns herab gesandt.
Wo eine Tugend an die Brust der andern,
Und wo der Gram ans Herz der Liebe fällt:
Da laß uns heiliger vorüber wandern;
Da feiert eine Engelwelt.
Sei hoch beseligt, oder leide;
Das Herz bedarf ein zweites Herz,
Geteilte Freud' ist doppelt Freude,
Geteilter Schmerz ist halber Schmerz.
Lieb' und Freundschaft wandeln unter guten,
Frommen Menschen tröstend auf und ab;
Treten weinend an ein Blumengrab,
Wo die Brust versank, an der sie ruhten.
Zu der Lichtwelt seufzen sie hinaus:
"Deinen Himmel haben wir verkündet;
Darum nimm uns, wenn hier alles schwindet,
Hehre Lichtflur, nimm uns rettend auf!"
Unter trauernden Erinnerungen
Liegt verschattet unser stille Pfad.
O, vergüte, was die Zeit verschlungen,
Und das Schicksal grausam niedertrat!
Unsre Herzen sind voll Totenmale,
Wie der Rasen im Cypressenthale.
Zwischen Gräbern seufzen wir hinauf:
"Hehre Lichtflur, nimm uns rettend auf!"
Ruft dieser Seufzerlaut der reinsten Lebenstriebe
Vergebens einen Himmel an,
Zu retten, was so schön, so feierlich begann? –
Die Sonne droben ist ein großer Blick der Liebe;
Gott schaut mit diesem Blick uns an:
Ihn frag', ob Gott vernichten kann!
Vernichten, Freund! – o sieh, er sendet,
Mit allen Segnungen der höhern Lebensruh,
Der dunkeln Stelle, wo dies Leben endet,
Noch seinen Friedensengel zu!
Mit Phädon flog am Arm des Glückes
Das heitre Leben hin; es war ihm ein Gesicht,
Das einmal nur erscheint! die Zukunft war ihm nicht.
Jetzt tritt herein der Geist des letzten Augenblickes,
Bedeutend ernst, wie ein Gericht;
Er löst die sanfte Blumenkette,
Mit welcher Phädon gern am süßen Leben hing;
Und Hehra tritt zur Lagerstätte,
Wo sie der Händedruck des Scheidenden empfing.
Er sprach: "Sieh hier den Tod! in seinem Schatten lauert
Bewaffnet ein empörtes Schmerzgewühl!
Geist – Kraft – und ewig tot! ach, die Vernichtung schauert
So kalt durchs widerstrebende Gefühl!"
Die Sanfte sprach: "Wir gehn von Pflichten, Freund, zu Pflichten,
Zu neuer Thätigkeit dahin." – Und Phädon rief:
"Dich, Engel, kann ein Gott der Wahrheit nicht vernichten!
Gott! Gott!" – Er wandte sich; sein brechend Aug' entschlief.
Es ist ein Gott des Rechts! O, glauben wir dem Munde,
Der endlich vor der Tugend ihn bekennt!
O Heil! das höchste Heil der Stunde,
Die tröstend uns den Retter nennt!
Nicht immer schwebt im sanften Blütenregen
Der Geist der Huld um unser Herz!
Das Schicksal klopft mit harten Schlägen
An unsre Brust, und draußen steht der Schmerz.
Wir schrecken auf, und zitternd sinkt das Herz
Auf Trümmer seines Friedens nieder!
Tritt näher hin: und er erhebt dich wieder;
Ein Bote Gottes ist der Schmerz.
Er spricht. "Laß ihr Gesetz die Weltnatur erfüllen!
Blick' über ihr Gebiet hinaus!
Der graue Nebel mag den Sonnentag verhüllen:
Er löscht die Sonne selbst nicht aus." –
So spricht der Feind, vor dem wir zittern;
Doch Friede sei mit ihm, der ihm und uns gebührt;
Er ist ein Engel in Gewittern,
Der zu dem höhern Frieden führt:
Den finden wir selbst im Cypressenschauer,
Wo er die Seele Lykophrons4 erhob,
Als über des Verlaßnen Trauer
Der sanfte Farbenkranz aus Licht und Nacht sich wob.
Das Ungewitter schwieg; zerrißne Wolken hingen
Vom Abendhimmel tief herab;
Die Sterne, hinter Wolkenschatten, gingen
Wie stille Geister, auf und ab;
Und Lykophron trat an ein frisches Grab.
Da schimmert' es vom Hügelrand herüber;
Der Halbmond schaute, wie ein trüber,
Ein halbgeschloßner Blick, ins Urnenthal herab.
"Melida!" rief der Gram – "so tief, so tief versunken
Ist all' die Herrlichkeit, die blühend dich umfing!
So tief in Nacht erlosch der Funken,
Woraus hervor das lichte Leben ging!"
Das Himmlische zerfiel, wie Blumenstaub der Fluren;
Und doch, wie drückten sich so zart und rein
In diesen Blumenstaub die Spuren
Vom Wandel eines Engels ein!
Da sieh! ein dünner Nebel kam gezogen;
Und, wie ein Traumgebild aus blühender Natur,
Umarmt' ein nächtlich sanfter Friedensbogen
Das tote Dunkel seiner Flur.
Da war's, als spräch' ein Geist zu ihm die Worte:
"Erhebe sich das trauernde Gemüt!
Der Friedensbogen dort, die sanfte Blumenpforte
Zum Himmel, ist aus Licht und Thränen aufgeblüht." –
Fürwahr, die Hand, die unter Blütendecken
Uns hinführt in den Hain der Lust,
Wirft auch den Sturm an unsre Brust,
Vom dumpfen Sinnentraum den Geist empor zu schrecken.
Mit welchem Druck sie uns berührt:
Es ist die Hand der Liebe, die uns führt!
Und diese Liebe stürzt – ach! wie von einer Klippe,
Vom Dasein uns so rettungslos hinab?
Sie reißt den Lebenskelch hinweg von unsrer Lippe,
Für den sie so viel Durst uns gab?
Sie ruft, durch die Natur, zur seligsten Vermutung
Der Dauer, Geist und Herz hinauf,
Und baut, zur gräßlichsten Verblutung
Des Lebens, hier den Opferaltar auf?
Wie? hat sie darum nur in dieser Stufenhalle
Den Menschengeist so hoch hinauf gestellt,
Daß er vom Gipfel seiner Welt
Mit desto tieferm Sturze falle?
Sie sandte selbst den Blick von Licht in seine Nacht,
Aus welcher er doch nie zum hellern Tag erwacht?
Sie hat den Sinn der Freiheit in die Seele
Nur darum tief, so tief hinein gelegt,
Damit der Geist in seiner Kerkerhöhle
Die Ketten fühle, die er trägt?
Die Tugend fordert unser Leben,
Sie fordert Opferung, und ihre Vollmacht lügt?
So mag das Laster nicht, so lass' den Edeln beben,
Der diese Welt verlor, und jene nicht ersiegt!
Dann kehre weg den Blick vom großen Weltenbuche!
Hohn lacht dir die Natur in ihrem Morgenrot;
Das ganze Leben wird zum Fluche;
Ja, dann ist Tod um uns, und nichts, als Tod!
Wir wandeln hin im großen Schattenreiche;
Was fallen kann, sind Trümmer nur;
Die lebende versenkt die tote Leiche;
Ein schrecklich Opferfest begehet die Natur!
Der Blutaltar – dort steht er aufgerichtet;
An seinem Fuße gähnt ein schauderhaftes Grab!
Dort wird im Menschen eine Welt vernichtet!
Dort bricht der Anfang eines Gottes ab! – –
O, diese Widersprüche stürmen
Dich deiner feierlichsten Hoffnung zu!
Das Leben triumphiert, und seine Palmen schirmen
Die heil'gen Stellen deiner Ruh.
In diese Friedenspalmen flüchte
Dein Glaube sich, wenn er, verjagt
Von Zweifeln, vor dem Weltgerichte,
Das du im Busen trägst, das Menschenlos verklagt;
Wenn er hinauf klagt zu den Sternen,
Daß, in dies Dasein eingeengt,
Wir eben nur die Tugend lieben lernen,
Und fort sind, eh' sie uns umfängt.
Laß einen Edeln sich vom Erdenstaub erheben!
Mit einem Seufzer geht der Weiseste dahin.
Las Casas5 stirbt – o sieh! der ganze Sinn
Des Lebens drückt sich aus in einem solchen Leben.
Wie unbefriedigt schaut er auf den Raum zurück,
Wo seine Tag' ihr kurzes Dasein hatten!
Das ist der letzte, dunkle Blick;
Es ist, als würf' er nur noch einen leisen Schatten
Aus einer höhern Welt zurück.
Er sieht die Zeit, wie sie, mit aufgerißnem Flügel,
Dahin mit unsern Thaten flieht.
So tritt er auf den letzten Hügel,
Um den ein Abendtraum vom langen Tage zieht.
Zu seinen Füßen schreit Chiappos Volk in Ketten,
Die Spaniens Tyrann um freie Menschen wand;
Der fromme Seelenhirt streckt zitternd aus die Hand,
Vom Drucke die Verzweifelnden zu retten;
Und, wie ein Segen, hängt an seinem Blick die Ruh.
Sein Wütrich zürnt herab von seinem goldnen Sessel;
Las Casas bebt, und wirft die kaum gelöste Fessel
Den armen schwarzen Brüdern zu.
Da, wo er rettete, schwebt ein erhabner Engel;
Und wo sein Mut der Tyrannei erlag,
Bedeckt die Stell' ein dunkler Tag.
Es ist der Schatten seiner Mängel;
Er kennt ihn wohl, und büßt ihn seufzend ab.
Ein Himmelsahnen schwebt nun sanft, wie eine helle,
Versöhnende Gestalt, auf seinen Geist herab.
Das reinste Leben gleicht der Quelle;
Auf ihren Spiegel fällt des Sonnengottes Blick;
Doch die, vom Schlamm des Ufers trübe, Welle
Strahlt ihn mit Zittern nur dem hehren Gott zurück.
Und solch ein Leben streckt umsonst die Hand hinüber
Nach einem höhern Ziel, das aus der Ferne winkt?
Es fällt, wie ein Phantom, ein Luftbild, welches trüber
Und immer trüber jetzt in seine Nacht versinkt? – –
So kann, so darf das Heilige nicht enden!
Hinüber sichernd über Nacht und Grab,
Kam – um an uns den Himmel zu verpfänden –
Das Göttliche zu uns herab,
Und strahlte – daß der Mensch sich selbst getreuer bliebe –
Der Tugend sanften Wiederschein,
Wie Nebensonnen, in die Triebe
Des dämmernden Gefühls hinein.
Da ward die Knechtschaft erdgeborner Sinne
Des göttlichen Gebiets, das ihr so nah' ist, inne.
Verkündet nicht der freie Göttermut,
Daß er aus fremden Welten stamme?
Dies Dasein ist der Herd, von dem die Lebensglut
Auflodern wird zur hellern Ätherflamme.
Nur, was der Erd' entsteigt, wird auch der Erde Raub.
Geschlechter schwinden fort, noch ehe sie veralten;
Wie Nebel ziehn dahin die dämmernden Gestalten;
Sie schütteln grauenden Verwesungsstaub
Aus langen, düstern Schleierfalten;
Und was bekränzt war, trägt verdorrtes Laub.
Die Gegenwart tritt auf; und weg vom jüngern Lichte
Sinkt immer tiefer die Vergangenheit.
Die Weltgeschichte selbst begräbt die Weltgeschichte,
Verwischt den alten Schattenriß der Zeit.
Die Male der Vergötterung verwittern!
Die ewige Natur reißt stolze Cedern fort.
Schau! wie versteinerte Jahrtausende, stehn dort
Die Riesenfelsen auf – die Zeit wird sie zersplittern.
Das Hohe fällt; und eine dumpfe Nacht
Steht lauernd hinter jedem Schimmer.
Wir trauern über Hellas' Trümmer;
Und finster blickt der Ernst auf Roms versunkne Pracht.
Verschüttet sind, Athene6, deine Hallen,
Wo seinen lichten Kranz der Genius erflog!
Dein Riesenbogen ist zerfallen,
O Rom, durch den dein Triumphator zog!
Das Heiligtum des kühnen Säulenganges
Umwuchert längst entweihendes Gesträuch;
Und leise seufzet noch aus ihrem Schattenreich
Die Muse des aonischen Gesanges.7
So ist der reichste Glanz ein flüchtiger Genuß!
So sinkt dahin, was hohe Kunst gestaltet! –
Doch dauernd ist, was innen waltet:
Unsterblich ist der Genius!
Entstehen, Sein, und Tod! – Verhängnisvolle Worte,
Ihr seid der Inhalt jedes Erdentraums!
Des feierlichen Throns, sowie des Hüttenraums!
Die Erd' ist das Gerüst der engen, grünen Pforte
Des Schattengangs, der sich hinab ins Dunkel zieht,
Wohin der Thor mit Graun, mit Ernst der Weise sieht.
Dort zittert schwer ein müder Greis hinunter;
Ein reiches Leben ging in seinen Tagen unter;
Die Welt ist nicht mehr sein, die seine ging zur Ruh.
Er wankt ihr einsam nach. – "Wohin?" – Wohin, fragst du?
Die Blume neigt ihr Haupt zur mütterlichen Erde;
Sie fragt nicht, ob ein Morgenrot
Zu irgend einem Lenz sie wieder wecken werde.
Der Mensch nur fühlet seinen Tod;
Der Mensch nur fragt: "Wohin?" – Ist diese ernste Frage
Nicht eine Nacht, in der es halb schon tagt?
Sie spricht ein Jenseit aus, wonach sie diesseit fragt.
So geht der Mensch zu seinem Opfertage,
Und durch das Fest der dunkeln Opferung
Zur leuchtenden Verherrlichung.
Mit tiefen Schatten ist der Weihaltar umhangen;
Der Göttertag ist noch nicht aufgegangen;
Tief hinter diesem Opferhain,
Da bricht er an, und löst die heil'gen Stunden,
Die Liebespfänder seines Himmels ein.
Bezahlen ist die Schuld, die Erd' ist abgefunden:
Und nun beginnt ein neues Sein
Vom Sein zum Sein geht alles Leben über;
Gestaltung reift zur Umgestaltung nur;
Und die Erscheinung schwebt vorüber.
Zum Nichtsein ist kein Schritt in der Natur.
Es mag ihr Flammenblitz den Eichwald niederbrennen;
Und ausgelöst ist eine Form des Seins.
Nur was sich fügte, mag sich trennen;
Des Menschen Geist ist innig Eins.
Zwar überschattet Nacht den Urquell unsrer Tage;
Wir wissen nicht, woher, wir wissen nicht, wohin
Der große Strom die kleine Welle trage;
Doch mein Triumph ist, daß ich bin!
Wir wissen nicht, wohin! drum müßten wir verschwinden?
Wir wissen nicht, woher! und doch, o Freund, wir sind!
Fortstreben wird, was geistig hier beginnt:
Sieh! Leben, Heil und Licht und Gottes Huld – das sind
Die Zeugen, die das Ewige verkünden. –
Noch Eine Bürgschaft ruht tief in des Menschen Brust:
Es ist das Heilige, das die Natur nicht kennet,
Das innre Sein, das uns den Geist der Tugend nennet.
Durch sich nur ist der Mensch sich dieses Seins bewußt;
Du bist nicht, was dir die Natur gegeben;
Sie warf es dir, als einen Schuldbrief, zu:
Dein, innig dein ist nur das Seelenleben!
Dies Seelenleben selbst bist du.
Wie Seel' und Körper sind, und wie sich Eins hinüber
Ins andre tief zu einem Sein verflicht,
Zu einem solchen Sein? – der Mensch erforscht es nicht;
Es ruhet Gottes Hand darüber.
Erforschten wir es auch, sprich: was gewönnen wir?
Gewönnen wir an Mut und Kraft, uns aufzuschwingen,
Und unsern Himmel selbst hienieden zu erringen? –
Genug! die Tugend bürgt dafür,
Daß nicht in der Natur ein Quell versiegen werde,
Der jenseit der Natur entrann.
Was irdisch ist, gehört der Erde;
Das Heilige gehört dem Himmel an. –
Sein werd' ich, weil ich bin. Triumphgesang, erschalle!
Erschalle tief in die Unendlichkeit hinein,
Daß aus der Tiefe laut dein Jubel wiederhalle!
Triumph! ich bin; und darum werd' ich sein!
Unsterblichkeit, auf hehren Schwingen
Erflieget der Geist dein lichteres Reich.
Weit hinter ihm, wo die Gestalten ringen,
Verrauschet der Sturm am dürren Gesträuch.
Ihr, vom Naturgesetz gehalten,
Ihr Sonnen, durchstrahlt den ewigen Raum;
Mein Geist fliegt auf von den Naturgewalten,
Und leuchtender strahlt sein ahnender Traum.
Es ist von ihm hinweggesunken
Der irdische Druck; das Göttliche nur,
Den linden Strahl, den reinen Ätherfunken
Entwinket ein Gott dem Schoß der Natur!
Erstdruck: Halle 1800.
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 307-323.
Vierter Gesang
Der Gott des Lebens kann den Menschen, den er mit so dringenden, über dies irdische Sein hinausfordernden Bedürfnissen ausstattete, nicht vernichten wollen; denn überall wehen uns aus der Natur Töne der Huld entgegen; und selbst der Schmerz ward zum Schutzgeist der Freude bestellt. Diese holde Pflegerin des Lebens kommt uns freundlich entgegen, und schließt sich, nicht unwürdig der hohen Bestimmung, dem Gefolge der Tugend an. Eine nicht minder hohe Begleiterin unserer heiligsten Gefühle ist die Phantasie. Sie erhebt uns über dies Dasein hinaus, und feiert mit einer schönen Seele das Leben höherer Welten. Aus höhern Welten kamen, um uns die Pilgerschaft durch diese noch mehr zu versüßen, die Liebe und die Freundschaft, wie zwei tröstende Genien, herab, und blicken voll Sehnsucht nach ihrer Heimat zurück, zu ihrem Himmel, der sie nicht zurückweisen kann. Diese Sehnsucht, und wenn sie auch in einem leichten, heitern Leben gleichsam in den Hintergrund zurücktritt, verschwindet nie.
Auch die Dunkelheiten unsers Erdendaseins sind eine Sendung der Huld. Die Stürme des Lebens regen in uns die großen Bedürfnisse auf, um mit der ganzen Kraft ihrer Ansprüche auf eine Zukunft uns zu begeistern. Kamen nun Leben und Vernichtung aus einer Hand: so ist dies Dasein eine Welt der Widersprüche. Das Leben ist eine flüchtige Erscheinung, in der wir nur unsre Mängel fühlen lernen. Unzufrieden mit sich selbst, blickt der Weiseste in die Vergangenheit zurück. Die Gestalten der Erde verschwinden; die unsterbliche Kunst sieht ihr Gebilde zerfallen; alles deutet hin auf physischen Tod; aber die Auflösung des irdischen Daseins ist die opfernde Vergötterungsscene des geistigen Menschen. Selbst in der Natur findet kein Übergang zum Nichtsein statt. Wir wissen zwar so wenig das Woher, als das Wohin unsers Seins: genug, daß wir sind; daß die Natur nicht auflösen kann, was im Reiche der Gestalten nicht entsprang. Des Menschen innigstes Seelenleben, die geistige Kraft, das Heilige zu fassen, die Tugend anzuerkennen, ist über die Ansprüche der Natur erhaben. Die Art des Zusammenhanges der geistigen Kraft mit der sinnlichen Organisation begreifen wir nicht. Unabhängig von diesem Geheimnisse, ist die Anerkennung unsers innigsten Berufs: fortzustreben zu einer immer mehr befriedigenden Vollendung, die eine Unendlichkeit verbürgt und voraussetzt.
Fußnoten
1 Dryaden, Waldgöttinnen, die im tiefsten Dunkel der Haine wohnten.
2 Der Altar, ein Gestirn am südlichen Himmel, unterhalb des Herkules.
3 Die Krone, dem Arktur gegenüber.
4 Lykophron, Sohn des Tyrannen Periander (629-585 v. Chr.) von Korinth und dessen Gemahlin Melissa, die infolge einer Mißhandlung durch ihren Gatten starb. Lykophron wandte sich, als ihm der Großvater den Mörder seiner Mutter entdeckte, mit tiefer Verachtung von seinem Vater ab, der darüber so in Zorn geriet, daß er den Sohn von sich stieß und jedermann bei Strafe verbot, ihn aufzunehmen. Lykophron wurde später, als sein Vater sich wieder mit ihm versöhnen und ihm die Herrschaft abtreten wollte, von den Bewohnern Korkyras ermordet.
5 Las Casas war Bischof von Chiappo in Mexiko. Er gab im Jahre 1542 eine Schrift heraus: Über die Mittel, Indien zu verbessern, und übersandte sie Kaiser Karl dem Fünften. Eine zweite Schrift von ihm führt den Titel: Die Verheerung Indiens. In beiden Schriften hält er den Tyrannen dieses, mit einer schauderhaften Grausamkeit unterjochten, Landes die Härte und Ungerechtigkeit vor, unter welcher die unglücklichen Indier in den drückendsten Ketten der Sklaverei verschmachten mußten. Er zeigte, daß es das Christentum entehrte, diese Mitgenossen einer Religion der Menschlichkeit der schrecklichsten Unmenschlichkeit preiszugeben. Aber was hatten jene Ungeheuer, die sich Christen nannten, mit der Menschlichkeit zu thun? Dem Las Casas stellte sich ein Widerstand entgegen, der ganz die Miene der Verfolgung trug. Doch verlor er nicht den Mut, für seine Unglücklichen zu thun, was der Drang der Umstände ihm übrig ließ. Gezwungen endlich von der Not, schlug er freilich, leider! den Tyrannen Westindiens vor, die, den christlichen Indiern abzunehmenden, Sklavenketten den heidnischen Schwarzen anzulegen. Von diesem Vorschlage an datiert sich der, die Menschheit schändende, Sklavenhandel, gegen den der Genius der neuern Zeit seine Stimme so laut erhoben hat, daß selbst Pitt ihm das Gaukelspiel einer, absichtlich vergeblichen, Bemühung, als ein heuchlerisches Opfer, schuldig zu sein glaubte. – Las Casas wurde durch die drängende Not, durch spanischen Despotismus, zu einem Vorschlage hin geschreckt, der seinem Herzen widersprach. – Es ist ein entzückender, unvergänglicher Kranz, den Engel, im dritten Teile des Philosophen für die Welt, auf das Grab dieses Weisen niederlegte.
6 Athene, Pallas Athene, oder Minerva. Sie trug den Sieg davon, als zwischen ihr und dem Neptun die Frage streitig war, nach wessen Namen die Hauptstadt Attikas genannt werden sollte. Diese Stadt erhielt von ihr den Namen Athen, und ward der Sitz der bildenden Künste.
7 Aonischer oder griechischer Gesang. Der aonische Berg in Böotien war den Musen geheiligt.