Роберт ГамерлингHOMUNCULUS. 9. GESANG: SEIN ODER NICHTSEIN
Jenen tiefen nächt'gen Schauer...
Jenen tiefen nächt'gen Schauer
Alles Lebens, welchen Munkel
Mitempfunden, als er einsam
Hing am hohen Marterholze
Dort auf ödem Bergesgipfel
In der schauerlichen Mondnacht –
Jenen tiefen nächt'gen Schauer,
Der versöhnt sich immer wieder
Lös't im heil'gen Strahl des Tages,
Aber zur Verzweiflung wurde
In der Seele des Homunkels –
Warf als düst're Schreckensbotschaft,
Unversöhnten Leid's Alarmruf
Munkel zündend in die Menge.
Das verschämte Leid der Seelen
Ward zur widrig off'nen Wunde,
Ward zur Krankheit, ward zur Seuche
Für die Seelen, für die Leiber.
So zur Perle wird die Thräne,
Einsam rollend – wird der Tropfen
In der Muschel; doch sich mischend
Dem gemeinen Erdenstaube,
Wird zum Koth er in der Straße ...
Langweil', Ueberdruß, Blasirtheit,
Spleen, Zerrissenheit und Weltschmerz
Aller frühern Menschenalter
Schienen nur ein harmlos Vorspiel,
Als die große Völkerseuche
Um sich griff des "Pessimismus".
Jeder warf hinweg das Leben,
Welches werthlos ihn bedünkte;
Fürchten mußte, wer sich wagte
In die Gasse, daß bei jedem
Schritte schier ein Unglücksel'ger,
Aus dem Fenster just sich stürzend,
Ihn mit sich zu Boden schmett're.
Sämmtlich hingen voll die Bäume
In den Gärten, in den Wäldern
Von den Opfern der Verzweiflung,
Und an keinem Weiher konnte
Man vorbeigeh'n, keinem Flusse,
Ohne daß ein Trupp Selbstmörder –
Einer Schaar von Fröschen ähnlich,
Wenn Lustwandelnde sich nähern –
In's Gewässer glitt vom Strande ...
Einzig und allein die Greise
Zwischen achtzig, neunzig Jahren
Wünschten immer noch zu leben,
Konnten nicht des jüngern Volkes
Todeslüsternheit begreifen.
Kleine Knaben, zarte Mägdlein
Spielten Sterben und Begraben,
Und nur kleines Mordwerkspielzeug
Liebten sie; die Knaben waren
Hypochonder, und die Mädchen,
Schon in ihrem dritten Jahre
Litten sie an Hysterie.
Aus den Schenken klang es nur mehr:
De profundis! Miserere!
Gaudeamus war verschollen,
Laute Fröhlichkeit verpönt,
Und erlaubt der "stille Suff" nur.
Ind'sche Arten der Askese
Nahmen überhand: es lebten
Eremiten, weltverachtend,
Zahlreich in den Wüsteneien.
Allverhaßt war nun das Dasein,
Und es steigerte bei Manchem
Sich der Ekel vor dem Leben
Bis zu tödlichem Erbrechen.
Auch im Stadium der Tobsucht
Wüthete die Weltverachtung.
Viele mußte man an Ketten
Legen, weil sie geifernd, scheltend,
Unablässig sich des Hauptes
Haar voll Wuth zerrauften, Alles
Kurz und klein zu schlagen drohten.
Schließlich wurden selbst die Thiere
Angesteckt von der "Blasirtheit"
Und "Nervosität" der Menschen.
Hunde wurden Hypochonder,
Mitgetheilt in den Familien
Ward die Hysterie den Katzen;
Diese dann auf and're Thiere
Pflanzten fort durch Biß das Uebel,
Wie die Wasserscheu. Der Zeisig
Sang nur mehr in Molltonweisen,
Leberkrank die Fische schlichen
Durch die Wellen, und die Rinder
Wiederkäuten – Schopenhauer.
Riesig wuchs der Kreaturen
Harm, Unseligkeit, Ermattung!
Doch der schwärzeste der Schatten,
Die das Uebel und das Weltleid
Warf in dieses Thal der Thränen,
Lag im Geiste des Homunkels.
Trübsinn hielt ihn tief umnachtet,
Tiefer als die andern armen
Kinder all' der weiten Erde.
Nur ein einzig Wesen gab es
Auf dem weiten Erdenrunde,
Das an Trübsinn, inn'rer Leere,
Lebensmüdigkeit ihm gleichkam.
Dieses Wesen war ein schönes
Blasses Weib, das düster-blickend,
Sinnend eines Tags im hohen
Dom zu Köln vor einem Bildniß
Stand der Mater dolorosa.
Heimgekehrt war sie zum Rheine
Von des Hellesponts Gestaden,
Wo als strahlendster der Sterne,
Ueppigste der Schönheitsrosen,
Sie geglänzt am gold'nen Horne,
Im Serail des Padischah.
Liebestoll zu Füßen lag ihr
Dort der mächt'ge Herr der Gläub'gen;
Doch sie fühlte sich als Sklavin,
Und von Ueberdruß ergriffen,
Rafft sie auf von üpp'ger Langweil'
Seid'nem Pfühl sich, will entsagen
Ganz der Menschenwelt, der schalen.
Maßlos fühlt sie sich unselig
Und es überkommt sie Reue,
Daß sie aufgab einst ihr bess'res,
Schönes, stilles Nixendasein
In krystall'ner Strombehausung,
Eingetauscht dafür des tollen
Menschenseins enttäuschungsvollen
Unbestand in ew'ger Unrast.
Heimgekehrt zum grünen Rheine,
Auf der Spitze ihres Felsens
Mitternachts bei Sternenscheine
Streift sie ab den eitlen Tand,
Der den Nixenleib umflittert,
Stürzt sich in die holdvertraute
Dunkle Flut hinab mit Jauchzen.
Doch wie wird ihr? Sie erschauert
In der Kühle der kristall'nen
Heimat auf dem Grund des Stromes.
Nicht mehr gleitet durch die Wellen
Sie wie einst, so leicht, so munter,
Trübe schwinden ihr die Tage,
Endlos lang die Sternennächte,
Denn gelernt die Zeit zu messen
Hat sie bei den Menschenkindern:
Zeitlos rann in holdem Gleichmaß
Einst der Stromesnymphe Dasein,
Wie des Stromes Welle selber!
Menschlich angekränkelt war sie
Und verloren der Natursinn
Längst, der laut're, der in schönem,
Sel'gen Einklang einst ihr Wesen
Hielt mit Himmel und mit Erde,
Mit den Wellen, mit den Lüften,
Mit den wandelnden Gestirnen.
Losgerissen war sie, ach,
Von dem mütterlichen Busen
Der Natur, der unbewußten,
Und doch auch nicht ganz vermenschlicht,
Nicht durchwärmt vom Götterfunken
Einer echten Menschenseele:
Einer Menschenseele, fähig
Echten Liebens, echten Leides ...
Auf der schmerzenreichen Mutter
Bildniß blickt die bleiche Schöne
Mit den lebensmüden Augen:
Und es blitzt in diesen Augen
Auf ein Strahl schier wie des Neides.
Und sie flüstert: "Hehres Weib,
Gieb mir deine sieben Speere –
Gieb sie mir, die sieben Speere,
Die dein Mutterherz durchstoßen:
Minder elend fühlen werd' ich
Mich mit diesen sieben Speeren,
Als mit dieser öden Leere,
Diesem Ueberdruß im Herzen! ..
So in Munkels, Lurleis Seele
Zeigte sich das Leid der Welt,
Sich das Leid der Zeit, das arge,
Schauerlich auf seinem Gipfel.
Ohne weit're Säumniß raffte,
Als so weit gedieh'n das Unheil,
Zu dem rettenden Gedanken,
Dem titanischen Entschlusse
Unser Held sich auf, der öden
Existenz ein Ziel zu setzen
Hier auf Erden und für immer.
Doch wie sollt' er sie vollführen,
Die titan'sche Retterthat?
Neun der Tage, neun der Nächte
Sann er nach und schier vergeblich.
Und wie Zeus, als er der Weisheit
Göttin dachte zu gebären,
Mußt' er sich den Kopf zerbrechen:
Aber nicht, um zu gebären
Eine Welt – nein, zu vernichten!
Erst gedacht' er allgemeine
Mörderische Hungersnöthe,
Theurung durch Getreidewucher
Zu erzeugen – neue Seuchen,
Tödtlicher als all' die andern
Einzuschmuggeln aus versumpften,
Pesthauch-schwangern Erdenwinkeln –
Oder große Völkerkämpfe,
Rassenkämpfe zu entfesseln,
D'ran die ganze Menschheit endlich
Sacht vermöchte zu verbluten.
Nationen, Natiönchen
Hetzt' er grimmig auf einander.
Kräftig waren diese Mittel,
Doch zu schleppend schien die Wirkung.
Trennung der Geschlechter pries er
Als der Hoffnung letzten Anker:
Plato's Liebestheorie
Von den zwei verschied'nen Hälften,
Welche erst zum vollen Menschen
Sich ergänzen, stieß er um.
Zahlreich macht' er Proselyten:
Aber immer – Gott weiß wie? –
Wurden Kinder noch geboren.
Schwämerische Frau'nspersonen
Predigten "spiritual love",
Und – und kamen in die Wochen.
Einen Plan auch viel erwog er,
Das Azot der atmosphär'schen
Luft auf ein'ge Meilen hoch in
Pikrinsäure zu verwandeln.
Doch zu solchem Thun erwiesen
Unerschwinglich sich die Mittel.
Nach all' diesen und noch andern
Aehnlichen Versuchen, welche,
Halb gelungen, ganz gescheitert,
Nicht vom Fleck die Sache brachten,
Zeigte sich dem Geiste Munkels
Als entscheidender Gedanke
Dieser noch: einzuberufen
Einen großen allgemeinen
Weltkongreß der Seinsverächter.
Zur Berathung sollten hierbei
Sich aus aller Herren Ländern
Unverweilt zusammenfinden
Die erlesensten der Geister.
So dann mit vereinten Kräften
Würde man vielleicht gelangen,
Meinte Munkel, zum erstrebten
Ziel der Seins- und Weltvernichtung.
Schließlich noch besann sich Munkel,
Daß ja die gesammte Thierwelt
Auch, die lebenden Geschlechter
All', des Menschen Stammesbrüder
Rings in Erde, Luft und Wasser
Miterlös't zu werden trachten,
Schmachtend in des Daseins Joche.
Wär's erlaubt, sie auszuschließen,
Wenn es gälte, zu erwägen,
Wie am gründlichsten dem Leben
Dieser siechen öden Erdwelt
Sei der Gnadenstoß zu geben?
War zum Glück doch der Gedanke
Allgemeinsamer Berathung,
Allgemeinsamer Verständ'gung
Der gesammten Lebewesen
Nicht mehr bloß Aesop'sche Fabel!
Denn es hatte jüngst, durch Munkels
Immer regen Geist ergrübelt,
Eine allgemeine Sprache,
Ein vereinfacht' Volapük,
Unter allen Völkerschaften
Und sogar bis in die Thierwelt
Sich verbreitet – eine Sprache,
Angepaßt den Stimmorganen
Auch der Thiere: ganz aus Lauten
Der Natur gebildet, Tönen
Und Geräuschen in verschied'ner
Stärke, wechselnder Betonung,
Abgestuft in Höhe, Tiefe,
Und begleitet von Geberden,
Deutungsvoll dem Sinn vermittelt.
Als Dolmetscher im Beginne
Zwischen Menschen erst und Vögeln,
Endlich der gesammten Thierwelt,
Dienten gern die Papageien,
Die mit Elstern, Staaren, Spechten,
Uns're edle Menschensprache
Längst schon leidlich radebrechten.
Alsobald von nah' und ferne
Strömten zu die Gleichgesinnten.
Stolze Briten, spleenbehaftet,
Nihilisten von der Moskwa,
Tiefgelehrte Doktrinäre
Und Kathederpessimisten
Uns'res großen Denkervolkes,
Buddhaisten auch aus Indien,
Neben Negern, Lappen, Kaffern,
Und noch vielen andern Völkern,
Waren allzumal vertreten.
Auch ein großer Schwarm von lauernd-
Lauschenden Berichterstattern
Kam aus aller Herren Ländern,
Spitzen Stift in spitzem Ohre.
Und gefolgt dem Rufe Munkels
War, nicht säumend, auch die Thierwelt.
Adler zwar und Greif und Löwe,
Phönix und Simurg und and're
Der erlauchter'n Thiergeschlechter
Ließen sich entschuld'gen: aber
Pica kam, die Elster, Rohrspatz,
Eule, Fledermaus und Unke,
Dompfaff, Wiedehopf und Guckuck –
Papageien selbstverständlich –
Und noch manche And're kamen.
Ahasver, der ew'ge Jude,
War, da unbekannt des alten
Weltdurchwand'rers Aufenthalt,
In den öffentlichen Blättern
Aller Länder aufgefordert,
Der Versammlung höh're Weihe
Zu verleih'n durch sein Erscheinen.
Er erschien und ward empfangen
Allerseits von des Kongresses
Gliedern mit den höchsten Ehren,
Als der Todessehnsucht ält'ster
Und ehrwürdigster Bekenner;
Ward gehoben auf die Schultern
Und im Kreis umhergetragen
Unter allgemeinem Jubel.
Gleich zum Alterspräsidenten
Wählte man ihn dann durch Zuruf,
Und so hatt' er zu eröffnen
Feierlich den großen ersten
Sitzungstag der Seinsverächter,
Dieses Schwarms von "ew'gen Juden",
Welche nach dem Tod verlangten.
Eine kurze Rede hielt er,
Zitternd, dumpf, mit Greisenstimme,
Und so blieb sie unvernommen;
Nach dem Ausspruch der "Reporter"
Mit den schärfst-gespitzten Ohren
Zeugte sie von Altersschwäche.
Als dann Munkel zur Eröffnung
Sinn'ge Worte noch gesprochen,
Tritt hervor zunächst ein deutscher
Hochansehnlicher Gelehrter,
Welcher die von ihm erfund'ne
Therm-elektro-phonographisch
Konstruirte, patentirte
"Lust- und Unlustwage" vorweis't,
Mittelst welcher er seit Jahren
Täglich die von ihm und Andern
Durchempfund'ne Lust und Unlust
Bis zur unermeßlich kleinsten,
Unbemerkbar-unbewußten,
Abgewogen, ziffermäßig
Dargestellt, protokollirt hat.
Rechenschaft dann giebt er gründlichst
Ueber das hierbei zu Tage
Ganz unzweifelhaft getret'ne
Defizit der Lust im Durchschnitt,
Wobei er, gewissenhaftest,
In Berechnungen sich einläßt
Mit viel langen Ziffernreihen
Und so manchem Dezimalbruch.
Die Versuche eines andern
Schätzbaren Kollegen, welcher
Lust- und Unlustgrademesser
Nach der Höhe solcher Sprünge,
Wie der Mensch sie thut vor Freuden,
Und der Tiefe Grad, in der er
Hängen läßt den Kopf vor Unlust,
Konstruirt – verurtheilt Redner,
Nennt sie ungenau und kindisch.
Günst'ger spricht er von der Absicht,
Jägers "Lust- und Unlustdüfte"
Anzuseh'n auf ihre Eignung
Hin zu solcher Maßbestimmung.
Mit Berufung ferner darauf,
Daß nachweislich expandirend
Wirkt die Lust, und kontrahirend
Auf den Organism die Unlust,
Glaubt er ziemliche Erfolge
Sich versprechen auch zu dürfen
Vom auf dies Prinzip gebauten
Neuesten "Hedonometer",
Dessen Plan ihn just beschäftigt.
Diesen Vortrag nahm mit lebhaft-
Wissenschaftlichem Int'resse,
Beifallspendend, gern zur Kenntniß
Uns're preisliche Versammlung.
Jetzt betritt ein spleenbeherrschter
Britenlord die Rednerbühne,
Und beginnt – nervöses Zucken
Wetterleuchtet ihm im Antlitz –
Zu ereifern sich: ein Wicht,
Ein erbärmlicher Geselle
Sei von je der Mensch auf diesem
Schnöden Rund der Welt, mit welchem
Gott und Teufel Fangball spielen!
"Ha!" so ruft er, bitter lachend,
"Dies Geschlecht der armen Wichte,
Das so prahlt mit seinem Scharfsinn,
Das so eitel pocht auf seine
Riesigen Kulturfortschritte,
Ist thatsächlich noch so weit nicht
Fortgeschritten, zu erfinden
Endlich eine Art von Knöpfen,
Welche fest am Rocke sitzen! –
Ja, der Mensch – ein armer Tropf ist's
Von Natur und durch Verhängniß,
Und was er auch immer treibe,
Was er thue, was er lasse,
Niemals kann er etwas and'res
Als erbärmlich sein und elend.
Schließ' ich einen Bund der Ehe,
Werd' ich Hahnrei: laß' ich's bleiben,
So verkomm' ich und verderb' ich
Einsam, alt, als Hagestolz.
Bild' ich mich, je nun, so werd' ich
Ein Pedant, ein raffinirter
Kopfmensch, und es geht zum Teufel
Herz, Gemüth mir und Natursinn!
Thu' ich's nicht – ei, so verdumm' ich
Und verthier' ich und bin schlechter
Als das Rind, das brüllt im Stalle!
O, die Menschen – hu! mich gruselt's!
Wie kann diese Sippschaft einem
Je gefallen, wenn er denken
Muß bei Jedem in der Menge,
Jedem, der ihm kommt vor Augen:
Ha, der Bursche, der vor mir da
Steht so ruhig und so harmlos,
Trägt vielleicht in sich den Keim schon
Einer fürchterlichen Krankheit,
Die ihn hinrafft nächste Woche –
Oder wird verrückt im nächsten
Augenblicke – oder macht sich
Schuldig in der nächsten Stunde
Eines gräßlichen Verbrechens! –
Und erscheint einmal erhaben
Ob der andern Dutzendmenschheit,
Der erbärmlichen, ein Erdsohn
Durch Genie – sieht er nicht schmählich
In den Wust und Dust des Alltags
Wiederum herabgezogen
Durch die hundert lächerlichen
Kleinlichen Erbärmlichkeiten
Seiner physischen Natur sich?
Welche Prosa grinst aus Schillers
Ewigem Katarrh und Schnupfen,
Goethes, des Olympiers,
Zahngebrest und Gliederreißen! –
Ist nicht jede kleinste Stelle
Uns'res Menschenleibs befähigt,
Einer schnöden, martervollen
Schmerzempfindung Sitz zu werden?
Aber auf wie wen'ge Stellen
Ist beschränkt das schale Bischen
Lustgefühl im selben Leibe!
Und schlägt nicht durch fortgesetzte
Steig'rung jede Lustempfindung
Alsbald in ihr Gegentheil um?
Aber wann schlägt jemals Unlust,
Wenn gesteigert, in Genuß um?
Wann verwandelt, wenn zunehmend,
Mißduft je in Wohlgeruch sich?
Und wann eine Tracht von Prügeln,
Wenn verdoppelt, sich in Wollust?
Ha, verräth in solchen Dingen
Nicht so recht die ganze Bosheit,
Ganze Tücke der Natur sich? –
Aber (fuhr der Redner fort
In gesteigerter Erregung)
Alles Menschenelends Krone
Bleibt doch stets die Langeweile,
Die unendliche, des Daseins!
Ha, dies tägliche Sichauszieh'n
Um sich wieder anzuziehen –
Dieses tägliche Rasiren –
Dieses siebzig, achtzig Jahr' lang
Fortgesetzte, auch nicht einen
Augenblick je unterbroch'ne
Pulsgetick und Luftgeschnappe –
Dies entwürdigende, schale
Einerlei des Stoffewechsels
Tag für Tag im langen Leben –
Tod und Teufel! ist mein Leib denn
Eine chemische Retorte?
Nur ein Tummelplatz für Buhlschaft
Oder Faustkampf der Molekel?
Muß ich fröhnen des Naturlaufs
Eigensinn'gen, närr'schen Launen,
Wie der Holzklotz, wie der Erdkloß,
Wie der dumme Stein am Wege?
Bin Nußknacker ich, Pagode,
Drahtfigur, Marionette?
Und dann überhaupt das ew'ge,
Unerträgliche Gebanntsein
In dies leid'ge Ich – Ich – Ich – ha!
Ich sein müssen, immer Ich,
Eingefangen, eingepfercht sein
Immer in dem eig'nen Selbst – oh!
Dieses Selbst, das uns zeitlebens
Sitzt als Huckepack im Nacken,
Niemals abzuschütteln auch nur
Eine flüchtige Minute,
Ob man seiner noch so sehr auch
Ueberdrüssig – dieser Popanz,
Der man "ist" – ja, immer "ist",
Und den man im längsten Leben
Doch so wenig kennt – so wenig
Kennen lernt, als seinen – Rücken!
Ist es nicht um toll zu werden?" –
So der Sprecher, stets erregter,
Wilder stets hervor die Worte
Stoßend – jedes Wort ein Steinwurf.
Jetzt aus Wolken tritt die Sonne,
Und des Redners wirrer Blick fällt
Auf den Schatten in der Sonne,
Den er wirft. Hohnlachend ruft er:
"Ei, da seht nur einmal den da!
Ha! auch der zu all' dem Andern?
Was nur will, was will er, dieser
Ueberflüss'ge Doppelgänger
Eines überflüss'gen Ich's?
Dieses Zerrbild uns'rer eig'nen
Wesenlosigkeit, was will es?
Dies Symbol des wesenlosen,
Schattenhaften großen Ganzen –
Spiegelbild des großen Nichts,
Welches doch so schauerlich, ha,
Schauerlicher als der Tod ist! –
Oder wär' er doch am Ende
Nicht so nichtig als er aussieht,
Der zudringliche Geselle? " –
Unheimlich begann zu funkeln
Und zu zucken und zu rollen
Hier des Sprechers graues Auge:
"In der That, ich trau' ihm nicht!
Mir wird angst zuweilen, wenn ich
Ganz allein mit ihm! Wer bürgt mir,
Daß mich dieser Doppelgänger,
Dies Gespenst des großen Nichts,
Nicht auch einmal plötzlich anfällt,
Sich von hinten auf mich stürzt,
Mich mißhandelt, mich beraubt,
Dann davon läuft und mich steh'n läßt
Schattenlos im Sonnenscheine?" –
Tief entsetzt auf seinen Schatten
Starrt der Sprecher.
"Ha, was fletschest
Du die Zähn', erhebst die Fäuste,
Reckst empor dich und bedräust mich
Mit Grimassen und Geberden?!" –
Vor den Mund trat jetzt der Schaum ihm;
Wüthend auf den Doppelgänger
Wirft er sich, das große Nichts.
Er ist toll geworden – schleunig
Wird er durch die schreck-ergriff'nen
Hörer, die ihm nahe standen,
Mit Gewalt von der Tribüne
Nieder und hinweg geführt.
Ihn ersetzt ein Moskowiter,
Ein Prophet des "Nihilismus",
Welcher mit blasirtem Gleichmuth,
Der in angenehmer Weise
Absticht gegen die erregte
Sprache jenes andern Redners,
Nur so ein paar Worte hinwirft,
Scharf und hart und kalt wie Dolche:
"Alles muß vernichtet werden!
Solches will der Nihilismus.
Was der Sinn sei, was das Wesen,
Was das Ziel des Nihilismus?
Dynamit ist's und Petroleum!
Das Bestehende zu stürzen
Ist das Erste, ist das Letzte.
Alles muß vernichtet werden!
Nichts ist werth, daß es bestehe,
Und Gott hat die Welt geschaffen,
Nur daß sie der Teufel hole!" –
Sprach's und schaute mit verglas'tem
Geieraug' noch einmal um sich
Und verließ die Rednerbühne.
Tiefer ward gefaßt die Sache
Von dem deutschen "Doktrinär",
Der hernach das Wort sich ausbat.
"Alles muß vernichtet werden!"
Hub er an. – "Ganz recht! so denk' ich
Auch – so denken ja wir Alle!
Doch der Weltvernichtungs-Losung
"Dynamit-Petroleum"
Sich're Trefflichkeit bestreit' ich:
Denn es mangelt ihm die logisch-
Metaphysische Korrektheit.
So gewiß nach Schopenhauer
Alles Sein und Leben einzig
Ruht auf dem geheimnißvollen,
Ruht auf dem all-Einen Willen,
Welcher Wille ist zu leben,
Und in seiner Unvernunft
Blindlings sich die Welt geschaffen –
So gewiß auch kann das Leben
Einzig durch all-Eines Wollen,
Nicht zu leben, aufgehoben,
Ganz und gründlich und für immer
Ausgetilgt, vernichtet werden.
Aber nicht durch Einzelwillen!
Solcher Wille kann nur tödten,
Und der Tod, er kann das Leben
Nur zertrümmern, nie vernichten!
Nein! vereinen muß in einem
Und demselben Augenblicke
Aller Wesen Lebenswille
Sich, das Leben nicht zu wollen!
Denn allmächtig ist der Wille,
Zu vernichten diese Welt,
Wie er's war, um sie zu schaffen.
Was als ew'ger, allgemeiner,
Der Urwille schuf, der blinde,
Kann zurück in's Nichts auch stürzen
Nur er selbst als ganzer, Einer.
Und so liegt der Sache Kernpunkt
Darin einzig, daß der Wille,
An sich unvernünft'ge Wille,
Eines Besseren belehrt nun
Durch den reifen Intellekt,
Sich in wiederhergestellter
Metaphysisch-myst'scher Einheit
Selbst bestimme, nicht zu leben,
Dieses Dasein zu verneinen!" –
"Hört!" erscholl's durch die Versammlung,
Und fortfuhr der Sprecher, während
Athemlos die Hörer lauschten.
"Wenden wir an die Gesammtheit
Aller Wesen uns des Erdballs!
Wenn mit angestrengt-vereinter,
Koncentrirter Willenskraft sie
Sich entschließen, nicht zu wollen,
Ist verneint der Lebenswille,
Ist verneint das Leben selber,
Und die große Seifenblase
Welt in unserem Bewußtsein,
Platzen wird sie plötzlich; schwinden
Wird auch das Bewußtsein selber
Mit dem Sein, das nur Bewußtsein! –
Und so sprech' ich's denn gelassen
Aus, das große Wort: an alle
Menschlichen und Thiergeschlechter
Dieses weiten Erdenrundes
Ungesäumt ergeh'n zu lassen
Eine Mahnung, unerhört,
Eine Frage, nie vernommen:
Ob gesonnen sie, so weiter
Noch zu leben, ob sie vorzieh'n
Diesem bitt'ren Sein des Nichtseins
Ew'ges Dolce far niente!
Hier an unserm Bundesorte,
Wenn nach Mondesfrist wir wieder
Uns dahier zusammenfinden,
Wird auf Schwingen der Elektrik
Ungesäumt zu theil uns werden
Aller Länder, aller Völker,
Aller sterblichen Geschlechter
Willensmeinungs-Offenbarung!
Und erklingt das Todesurtheil
Für die Welt, das große Nein,
Tag und Stunde zu bestimmen
Gilt es dann und kund zu machen
Für den großen feierlichen
Aktus der Gerichtsvollstreckung
An dem Sein, dem tod-verfall'nen,
Wo in einem und demselben
Augenblick auf weiter Erde
Nicht bloß in der Mehrzahl etwa –
Nicht genügen würde Solches,
Wie schon fälschlich ward behauptet –
Nein, in Allen, wie ein Licht,
Stracks erlöscht der Lebenswille,
Und mit ihm, was er in blöder
Jugendthorheit einst erzeugte
Mit der Buhlin Phantasie:
Dieses Traum- und Schaumgebilde,
Das wir Welt zu nennen pflegen!" –
Aufgenommen ward mit Staunen,
Mit Verblüffung und mit ries'gem
Beifallsjubel dieser Vorschlag.
Aber Munkel gab das Wort jetzt
Den Vertretern auch der Thierwelt.
Und sie traten auf und sprachen,
Und bewiesen, daß Verstand nicht
Und Vernunft es war und Einsicht,
Was bisher gebrach den Thieren,
Sondern nur die Redegabe.
Allen Andern that der Rohrspatz
Es zuvor in bitterbösem
Schelten auf die Welt, die arge,
Ihren Schnabel wetzte blinzelnd
Zu des Lichts Unglimpf die Eule,
Wimmerte, ein Elend sei es
Für die schnöden Taggeschöpfe,
Daß der wohligen, der stillen,
Süßen Dunkelheit entrissen,
Gleich bei'm ersten Augenaufschlag
Sie das Licht der Welt erblicken,
Diese unverschämte Helle!
Lebhaft schwatzend, ohrzerreißend,
Gab der Papagei zu hören
Das von Anderen Gesagte
Und erging sich in Citaten
Ohne Zahl aus allen Büchern
Aller Sprachen, die des alten
Weltleids je Erwähnung thaten.
"Selbstverneinung, allgemeine
Selbstverneinung," schnarrt' er schließlich,
"Ja, das ist's! Als genialer
Blitz am höchsten Geisteshimmel
Zuckt' er auf, der Hochgedanke!
Ha, mit dem Gedanken beißt sich
In den Schweif die Weltenschlange,
Sich zur Null des Nichts zu ründen!
Weltgeschick, vollende dich!
Hurrah!" schloß er kreischend, krächzend,
"Hurrah, hoch die Selbstverneinung,
Weltverneinung, Allverneinung!" –
Ungesäumt nun an des Erdballs
Völker ward entsandt die Botschaft,
Und an alle Thiergeschlechter.
Festlich schloß des hohen Wirkens
Der Versammlung ersten Ablauf
Ein Bankett. Unzähl'ge Toaste
Wurden ausgebracht: auf Munkel
Allvoran, dann auf den greisen
Ahasver – auf Schopenhauer –
Auf den Gott der Weltvernichtung
Shiva – auf den Tod – das Nichts.
Becher blinkten, Pfropfen knallten.
Schließlich, um die Geisterstunde,
Brüllten Ein'ge "Gaudeamus
Igitur" – "Freut euch des Lebens" –
Doch das war ein wüster Traum nur,
Draus sie tiefbeschämt erwachten. –
Und des Erdballs leidbedrängte
Wesen alle, sie vernahmen
Die Verkündung und erwogen
All' ihr Uebermaß des Leides,
All' die Drangsal und Beschwerde,
Ihr vergebliches Bemühen,
Ihr verlornes Sinnen, Trachten,
Und den Trug des falschen Glückes;
Und es war das Endergebniß,
Das erklang in tausend Sprachen:
"So kann es nicht weiter gehen!
Laßt uns denn ein Ende machen!" –
Also schien das schöpferische
Urprinzip der Welt, der blinde,
Blöde, unvernünft'ge Wille,
Endlich zur Vernunft gekommen,
Und besann sich und erklärte
Sich bereit, nicht mehr zu wollen!
Mit gehobenen Gemüthern
Lauscht man diesem Endergebniß
An dem Mittelpunkt der Dinge,
An dem hohen Bundesorte.
Und nun traten sie zusammen,
Der Versammlung edle Häupter,
Tag und Stunde zu bestimmen
Für den großen, feierlichen
Akt der heil'gen allgemeinen
Weltverneinung, Weltvernichtung,
Wo durch das all-Eine, kräftigst
Auf das hohe Ziel vereinte
Wollen aller Creaturen
Sich zur Wirklichkeit gestalten
Soll die Riesenkatastrophe.
Und der Tag, den man bestimmte,
War: der erste des April.
Und die Stunde war die zwölfte
Nach des Thurmes Stundenweiser
An des hohen Bundes Stätte.
Für die andern Erdenorte
Ward sie festgestellt entsprechend
Von den besten Himmelskund'gen.
Und der Tag, er kam heran,
Und die Stunde, sie war nahe.
Des Kongresses edle Glieder
Lauschten, blaß, ernst, stumm geworden,
All' in weihevoller Spannung.
Von des Thurmes Höh' erdröhnte
Schlag für Schlag die zwölfte Stunde,
Und der letzte war verklungen.
Der Moment, er war gekommen,
Wo sie platzen sollte plötzlich,
Jene große Seifenblase
Welt im menschlichen Bewußtsein ...
Ineinanderzittern sollten
Aller Willenskräfte Ströme
Zu dem mystisch-metaphysisch-
Einheitlichen Willensschlusse:
Nicht zu wollen ...
Jetzt verfinsterte die Sonne
Sich am Himmel, und der Mond,
Wie ein düst'rer Todesherold,
Trat im weißen Leichenlaken
Zwischen Sonnenrund und Erdball ...
Dunkel ward's und dunkler immer,
Und die Finsterniß umhüllte
Mit den Schrecknissen der Nacht sich,
Gleich als wäre sie die letzte.
Alle Fledermäuse schwirrten,
Alle Todtenwürmer pickten,
Alle Raben, alle Geier
Schwärmten lauernd in den Lüften,
Alle Unken in den Weihern,
Alle Eulen in den Wäldern
Und Rohrdommeln in den Sümpfen
Stöhnten, ächzten, und gespenstig
Durch die Nacht erdröhnte fernher
Die geheimnißvolle Stimme,
Die man Nachts vernimmt auf Ceylon –
Schauerliche Töne klangen,
Wie der nächt'ge Todesangstruf
Eines Rosses, das verendet
Unter Leichen auf dem Schlachtfeld ...
Einen kurzen Augenblick, traun,
War's, als ob das Weltenschicksal
Nur an einem Faden hinge –
War's, als ob die Erde bebte,
War's, als ob ein Schauer ginge
Durch das Herz der Welt, der Dinge ...
Plötzlich doch – bei Seite stoßend
Jenen fahlen Todesherold
Und des Schleiers Saum zerreißend,
Trat aus ihrem düstern Dunkel
Vor die gold'ne Sonn' und – lachte.
Und die Wasser rauschten lachend,
Und die Winde wehten kichernd,
Und auf allen Wölkchen, welche
Durch den blauen Himmel zogen,
Saßen Geisterchen und lachten.
Frühling war's – die Erde glänzte
Blumen-überstreut und lachte.
In der Bergesschlünde Tiefen
Saßen Zwerge, saßen Gnomen,
Hielten sich den Bauch vor Lachen.
Ueberall in Luft und Wasser,
Höh'n und Tiefen scholl ein Kichern,
Scholl ein Lachen; selbst der Himmel
Machte jenen Lieblingsausdruck
Der Poeten wahr und lachte.
Selbst die Sterne guckten diesmal
Ausnahmsweis' am hellen Tage
Aus der Weltenferne tiefstem
Hintergrund hervor und lachten ...
Was geschah in jenem großen
Augenblick, als alles Lebens,
Aller Willenskräfte Ströme
Ineinander sollten zittern
Zu dem mystisch-metaphysisch-
Einheitlichen Willensschlusse:
Nicht zu wollen? –
Was geschah –
Niemand ahnt' es; von den damals
Lebenden erfuhr es Keiner.
Nur die Muse kann es sagen,
Und sie will es nicht verhehlen.
Ach, gescheitert ist das hohe,
Hehre Werk nur an dem Frevel
Eines blöden Liebespaares!
Eines blöden Liebespaares,
Das die Finsterniß verlockte
Sich zu küssen – weltvergessen –
Und das dann im Augenblicke,
Dem entscheidenden, zu spät kam
Zur einmüth'gen Weltverneinung! –
Dieses Liebespaar, das blöde,
Eldo – Eldo war's und Dora,
Die nach langer, langer Trennung
Just an diesem Schicksalstage
Durch des Zufalls Gunst und Fügung
Unverhofft sich wiedersahen. –
Alles Lebens Pulse schlugen,
Gleich als wäre nichts geschehen.
Eines nach dem Andern schlichen
Sich hinweg die edlen Glieder
Vom Kongreß der Weltverneiner,
Stumm, beschämt, die Köpfe schüttelnd,
Einer meinte, schlecht gewählt
Sei die Jahreszeit gewesen
Für den Tag der Weltverneinung:
Denn der Wille, nicht zu wollen,
Sei bekanntlich schwach im Lenze.
Ach, was half dir's, armer Wille,
Daß vernünftig du geworden?
Ach, du bist zu schwach gewesen!
Stark genug bist du gewesen
Schaffend diese Welt zu wollen,
Aber nicht, sie nicht zu wollen!
Alles kann der Lebenswille,
Scheint's, nur nicht: sich selbst nicht wollen! –
Munkel und der ew'ge Jude
Sind allein zurückgeblieben,
Steh'n versenkt in tiefes Sinnen.
"Wiederum im Stich gelassen
Hast du mich, elende Menschheit!"
Ruft in wilder Zornerregung
Munkel. "Thor, wer hofft, zu großem
Wollen je dich zu vereinen!
Eure matte Selbstverneinung,
Thöricht eitle Erdenkinder,
Fastnachtsposse ist's für Götter!
Eure Sehnsucht nach dem Tode,
Mit der ihr so gerne flunkert,
Ist ein Wahngeschwätz von Kindern,
Die nicht wissen, was sie wollen!
Und wenn Einer selbst sich tödtet,
Ist's ein übereilter Schritt,
Den er flugs bereuen würde,
Wenn dazu die Zeit ihm bliebe!
Ihr erklärt für lebensmüd' euch,
Und doch wünscht von euch ein Jeder
Die neun Leben sich der Katze
Insgeheim, anstatt des einen.
Nicht der Thierwelt will ich grollen,
Schmachvoll aber für die Menschen
Ist's, daß sie in ihrem Dünkel
Denken, handeln wie die Thiere!
Ha, ihr Elenden, die ihr euch
Hohe Wesen dünkt, als "echte"
Menschensöhne, als "gezeugte",
Ja sogar als "gottgeschaff'ne",
Und verachtend blickt auf mich,
Mich, den Sprößling der Retorte:
Hört! noch wen'ger Grund zum Stolze
Hat auf das, was er geschaffen,
Seine Menschen, seine Welt,
Euer Gott in Himmelshöhen,
Als mein chemischer Erzeuger
Auf die Schöpfung seiner Hände.
Und gedenkend, was bei euch ich,
Mit euch durcherlebte, sag' ich:
Gottgeschöpfe, ich veracht' euch
Allesammt – ich, der Homunkel!
Schnöde Welt! den Rücken kehr' ich
Dir auf immer! Dich dir selber
Ueberlass' ich, überlasse
Dem gewohnten, dem verdienten
Elend dich des Weiterlebens!" –
Spricht's und sucht die tiefste Wildniß.
Seufzend greift der ew'ge Jude,
Der den herben Zornesworten
Still und scheu gelauscht und zitternd,
Gleich als hätt' erneut, verschärft, ihn
Jetzt der alte Fluch getroffen,
Nach dem alten, knot'gen, morschen
Wanderstab und humpelt weiter.
Homunculus.
Erstdruck: Hamburg (Richter) 1888.
Hamerling, Robert: Homunculus. Modernes Epos in 10 Gesängen, 5. Auflage, Hamburg
1889, S. 244-279.